In einem aktuellen Urteil setzte sich das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen mit der Frage auseinander, ob eine Exoskelett-Orthese (vorliegend: „ReWalk Personal 6.0“) als Sachleistung gewährt werden kann. Streitig war insbesondere, ob die medizinische Notwendigkeit eines solchen Exoskelettes bejaht werden kann, wenn der Betroffene über genügend Hilfsmittel verfügt, um sich selbständig zu versorgen (Rollstühle, angepasstes Kfz, barrierefreie Wohnung).
Der Kläger leidet vorliegend an einer inkompletten sensomotorischen Querschnittslähmung mit funktionslosen Beinen und Bewegungsunfähigkeit der unteren Gliedmaßen sowie einer Allgemeinbeeinträchtigung nach multipler Wirbel- und Rückenmarkschädigung. Ihm wurden ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen H, G, aG und B zuerkannt. Er lebt in einer barrierefreien Wohnung, ist mit einem Aktivrollstuhl mobil, kann mit seinem Stehrollstuhl eine vertikale Position einnehmen und kann mit seinem für ihn angepassten Kfz selbständig fahren.
Im Februar 2015 sowie im September 2016 beantragte der Kläger die Versorgung mit einem Exoskelett als unmittelbaren Behinderungsausgleich zur Verbesserung der Mobilität. Seine Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, das Exoskelett diene nicht dem Ausgleich einer Behinderung, sondern nur der Unterstützung der Behandlung und stelle damit nur einen mittelbaren Behinderungsausgleich dar.
Die hiergegen erhobene Klage vor dem Sozialgericht Aachen hatte keinen Erfolg. Das Sozialgericht folgte in seinem Urteil vom 23.07.2019 den Ausführungen eines Sachverständigen, welcher ausführte, der Patient werde bei Verwendung des Exoskeletts gegangen und gehe nicht selbst, da das Exoskelett mittels eines technischen Vorgangs in Gang gesetzt werde und Schrittlänge sowie Schrittgeschwindigkeit voreingestellt seien. Ein Exoskelett sei auch nicht alltagstauglich und dem Rollstuhl lediglich beim Treppensteigen überlegen.
Die hiergegen eingelegte Berufung ist nach Ansicht des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Versorgung mit einem Exoskelett.
Dieser Anspruch ergibt sich nach Ansicht des Gerichts aus § 33 Abs. 1 SGB V. Hiernach besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 SGB V ausgeschlossen sind. Das begehrte Hilfsmittel muss ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein.
Vorliegend ergebe sich der Anspruch aus § 33 Abs. 1 S. 1 3. Alt. SGB V unter dem Gesichtspunkt des unmittelbaren Behinderungsausgleichs, da das Exoskelett als orthopädisches Hilfsmittel die Funktion der Beine insofern ersetzt, als dass der Verwender nun selbständig gehen und stehen kann. Bei der Frage, welche Körperfunktion ausgeglichen wird, sei nicht eine krankheits-, sondern eine funktionsbezogen-generelle Betrachtungsweise anzuwenden; hieraus ergebe sich, dass durch das Exoskelett die Funktion des Stehens und Gehens ersetzt werden soll. Dies gelinge durch die Verwendung eines Exoskeletts unmittelbar. Entgegen der Auffassung des Sachverständigen, auf dessen Gutachten das Urteil des Sozialgerichts Aachen beruhte, werde der Verwender nicht nur „passiv“ bewegt, sondern könne durch die Programmwahl, den Gleichgewichtssinn und das Bewegen der Unterarmgehstützen selbst entscheiden, wann, wohin und wie lange er gehen will. Die Mobilisierung erfolge zwar richtigerweise nicht durch die funktionslosen Beine, sondern allein durch das in Gang gesetzte Hilfsmittel; insofern bestünden aber keine grundlegenden Unterschiede zu Unterarmgehstützen, welche als unmittelbarer Behinderungsausgleich anerkannt sind. Auch bei diesen solle weder ein flüssiges Gangbild ermöglicht, noch ein eigenständiges Gehen mit den Beinen ersetzt werden. Entscheidend sei eben nur, dass die Funktion (hier: Gehen und Stehen) ausgeglichen werden kann.
Die Versorgung mit einem Exoskelett sei vorliegend auch erforderlich, da es auf dem Markt kein anderes, gleich geeignetes Hilfsmittel gebe, welches sowohl das selbständige Gehen als auch das selbständige Stehen ermöglicht.